Weiler vor Weiler
Künstler sind älter als ihre Werke. Schon in ihr erstes Bild fließen Entwicklungen und Entscheidungen ein, die weit zurückreichen. Es lohnt, sie kennenzulernen.
Wer also war dieser Weiler vor Weiler? Jener junge Mensch, der sich allmählich zum Künstler bestimmte? Welche Lebensumstände, welche geistigen Regungen, welche historischen Rahmenbedingungen haben ihn geprägt?
Ein Blick ins Familienalbum zeigt ihn im Kontext eines katholischen Bürgertums, das sich in den historischen Umstürzen nach 1918 zu behaupten trachtete. Die Orte der Kindheit: der Geburtsort Absam in der Nähe von Hall in Tirol, dann vor allem Innsbruck zeigen eine provinzielle Solidität.
Max Weiler, 1910 als Sohn eines Richters geboren, hat zu dieser Herkunft lebenslang eine ambivalente Haltung eingenommen. Sie beherbergte das Paradies seiner Kindheit, dessen Bildwelten ihn tief berührten und seine Einbildungskraft bevölkerten. Die lebendige Erinnerung daran war eine dauernde Triebfeder seiner künstlerischen Arbeit. Zugleich war diese Herkunft aber auch negativ besetzt: der Quell seines Leidens und eines Gefühls der Erniedrigung.
Schon der Knabe begann damit, sich ein Gegenreich aufzubauen. In dessen Zentrum stand jene Geborgenheit, die er der Betrachtung der Natur abgewann. Die heimische Bergwelt in ihrer Elementarität wurde ihm zum seelischen Anker. “Ich gehöre … zu Land, zu Berg, zu Wasser, zu Wolke, zu Wind, zu Stein.” Und das heißt zugleich: “nicht zu Mensch, zu Gliedern … zu Körperbewegungen … nicht zu Tier, nicht zu Haus, Stadt, Schloß, Brücke …” (10. April 1975) Zur Natur spricht er, wie sie zu ihm: “Sei ruhig sagt sie. Du bist allein, weil einfach keiner da ist. Ich bin da und für mich bist du allein da. Freue dich!” (23. Dezember 1973)
Ohne diesen primären Naturbezug wäre die Entfaltung der Weilerschen Malerei, durch sieben Jahrzehnte hindurch, nicht vorstellbar. Weiler hatte dies alles in Tirol erlebt, ein Tiroler Maler ist er deswegen aber nicht geworden. Stets fühlte er sich als ein Europäer und Weltbürger, den Chinesen der Sung-Dynastie des zehnten bis dreizehnten Jahrhunderts so nahe wie Caspar David Friedrich, wie Grünewald oder Cézanne. An der Natur schulte er seine Wahrnehmungskraft, deren subtile Sichten, Ahnungen und Witterungen dem Betrachter ein ähnlich feines Register abverlangen.
Während der Pubertät – im Jahre 1925 – wurde er in den “Bund Neuland” eingeführt, eines Ablegers jener großen europäischen Jugendbewegung, die seit der Jahrhundertwende so viele Köpfe und Gemüter verwandelt hat. In diesem Fall war die Naturbegeisterung von einer franziskanischen Frömmigkeit begleitet. Sie war durchaus kirchenkritisch gesonnen und anti-bürgerlich. Es ging darum, in Jugendbünden ein neues einfaches und volksnahes Leben zu erproben, die Gesellschaft in diesem Sinne zu verwandeln.
Bevorzugter Ort des Bundes Neuland war die Tiroler Burg Petersberg. Dort wurde das Ideal eines einfachen Gemeinschaftslebens gepflegt und gestaltet. Es haben sich Fotos erhalten, welche die mönchisch-asketische Einrichtung zeigen, die man sich schuf. An den Wänden eine Trouvaille: das sicherlich älteste Wandbild Weilers, das mit der Machtübernahme der Nazis in Österreich ebenso zerstört wurde wie das ganze bündische Leben.
Weiler am Anfang (1927-1945)
Die im Bund Neuland erfahrene und gelebte Verbindung von Naturerfahrung und Spiritualität darf man getrost die Wurzel von Weilers gesamter Kunst nennen. Ihre jugendbewegten Schalen wurden recht bald abgelegt. Mit dem Übergang von der Schule an die Akademie fand Weiler eine erste künstlerische Sprache. Wir sehen ihn, wie er sich in der Innsbrucker Malschule von Toni Kirchmayr auf die Wiener Akademie vorbereitet, wo er 1930 in der Klasse von Karl Sterrer bald auf Gleichgesinnte, aus dem Bund Neuland, traf, vor allem auf den Grazer Rudolf Szyszkowitz und den Salzburger Karl Weiser, mit dem zusammen er seine erste Akademieausstellung veranstalten sollte (1935). Es entstand eine radikal vereinfachte Figurenmalerei, deren Protagonisten dem Betrachter frontal und hieratisch entgegentreten. Darunter befinden sich ikonographisch kühne Erndungen Max Weilers. Zum Beispiel der Schöpfer, der die Natur wie ein Kind auf dem Schoß hält oder jene Variation des Hohen Liedes Salomonis, in der sich Schöpfer und Schöpfung wie Bräutigam und Braut verbinden, der gesichtslose Mann und die ruhig blickende Frau in Eintracht. Es ist solchen Bildern anzusehen, dass ihre Funktion innerhalb der neuen Frömmigkeit bzw. Liturgie gelegen war. Weiler wurde, darüber hinaus, zu Dekorationsaufgaben im neuen Kirchenbau herangezogen.
Im nächsten Schritt verschwinden die religiösen Kompositionsideen. Die Darstellungen nähern sich einer Landschaftsmalerei an, in der es darum geht, die Natur als eine positive Kraft, als “verehrungswürdiges Sein” zu deuten. In die Natur selbst kehrt eine Spiritualität ein, die sie völlig erfüllt. In diesem Kontext ist der Hinweis auf Kandinsky hilfreich, der seinerseits mit dem “Geistigen in der Kunst” und dem “Blauen Reiter” einen Weg gegangen ist, auf dem die Synthese von Spiritualität und befreiter Naturerfahrung den Durchbruch zur Abstraktion ermöglichte. Weiler ordnet sich damit einer europäischen Gesamtkonstellation der Moderne zu.
Seine künstlerische Entwicklung wurde bald von den Katastrophen der Geschichte überlagert. Die Elle von Norm und Entartung, welche die Nazis nach dem “Anschluß” 1938 auch in Österreich an die Kunst anlegten, verfrachtete auch den jungen Weiler ins Abseits. Was so emphatisch begonnen hatte, endete schon in den dreißiger Jahren in einer Flucht zurück nach Tirol. Dort fand er eine Stelle als Hilfslehrer für Zeichnen in Telfs und in Zams bei Landeck, auf der er seine künstlerische Arbeit zwar nicht entwickeln konnte, zunächst aber auch nicht völlig abbrechen musste. Dies geschah erst mit der Einberufung zum Militär. Schon der Bezug von Malmaterialien war in jenen Jahren schwierig geworden. Ganz wenige, meist kleinformatige Bilder sind noch entstanden. Eine Ausnahme: das großformatige Bild “Die Bauernfamilie” (1941). Als Weiler im Sommer 1942 als Soldat eingezogen wurde, war an kontinuierliche Arbeit nicht mehr zu denken. Jetzt ging es um die Kunst des Überlebens. Weiler wurde als Gefreiter in Istrien und Oberitalien eingesetzt. Kurz vor der Kapitulation konnte er sich zu Fuß nach Gerlos im Zillertal durchschlagen, wo er mit seiner Familie wieder zusammentraf. 1941 hatte er seine erste Frau, Gertraud Frenner, geheiratet, die 1985 gestorben ist.
Neuanfänge nach 1945
Weiler war es gelungen zu überleben, und die ersten Bilder, die er nach dem Ende des Krieges und des Hitlerreiches malte, bezeugen einen Schub an Vitalität und Lebensfülle. Auch die direkten Bindungen an den künstlerischen Stil des Bundes Neuland und an die Liturgieform waren wirkungslos geworden. Weiler sucht in direkter Auseinandersetzung mit dem, was er sah, einen neuen tragfähigen Boden. Ohne Angst und Bedrohung konnte er sich nun dem widmen, was ihm die Natur darbot. Er formulierte das Sichtbare in einem expressiven Duktus, der nicht vereinfachen und monumentalisieren will, sondern die Realität in ihrer leuchtenden Fülle ergreifen möchte.
Dennoch gibt es keinen Zweifel, dass auch diese Naturerfahrung eine zweite Ebene besitzt, von “unsichtbaren” Kräften zeugt, von einer Spiritualität, für die er in den folgenden Jahren eine eigene Chiffrensprache entwickeln sollte. Bald begann er mit der Ausmalung der Theresienkirche auf der Innsbrucker Hungerburg und knüpfte an die Gattung öffentlicher religiöser Malerei an, der er in seinen frühen Jahren soviel Energie zugeführt hatte. Die Darstellungen sind starkfarbig und lebensnah, fern von jener Stilisierung der dreißiger Jahre. Die Bilder zum Themenkreis des “Herz Jesu Festes” bedienen sich direkter Bezüge auf das Alltagsleben, auf die Tiroler Gebirgslandschaft mit Innsbrucker Reminiszenzen, auf Trachten und Volksnähe. Weiler dachte daran, einmal mehr, die religiösen Inhalte und Erzählungen, u.a. diejenige der Kreuzigung Christi, mit Gegenwart auszustatten, indem er sie unter die Bedingungen der eigenen Zeit versetzte. Der dadurch erregte Skandal zählt zu den härtesten Auseinandersetzungen in Weilers Leben. Alte Frontlinien waren plötzlich wieder lebendig: jene zwischen einem konservativen Katholizismus und einer offenen, kritischen Frömmigkeit, jene zwischen einer rückwärtsgewandten Enge und einer an der Moderne orientierten Kultur. Der Konflikt führte Weiler sogar vor die Schranken des Gerichtes, angeklagt wegen “Herabwürdigung des Bauernstandes”, dessen Vertreter sich durch die Darstellung im Kreuzigungsbild missdeutet sahen. Er zwang ihn am Ende, die Fresken zu verhängen, um sie so wenigstens vor dem Ärgsten zu bewahren: der bereits angeordneten Entfernung. Als “Skandalmaler” kam Weiler auf die zeitgenössische politische, kulturelle und künstlerische Bühne zurück.